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Schutz vor Covid-19: Stark sein reicht nicht

«Ich habe ein gutes Immunsystem», sagen viele Menschen, die glauben, dass sie keine Corona-Impfung benötigen. Warum das ein Trugschluss ist und die Impfung wie ein Training wirkt.

Cornelia Eisenach 4 min
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Illustration: Indigo

Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Platz in einem Expeditionsteam auf den Mount Everest, den höchsten Berg der Welt, ergattert. Doch es gibt ein Problem: Die Tour soll schon nächste Woche losgehen. Auch wenn Sie regelmässig in den Schweizer Alpen unterwegs sind, würden Sie sich wahrscheinlich nicht ohne Training auf dieses Abenteuer einlassen. Denn Sie möchten den Trip erstens geniessen und zweitens danach noch ein bisschen weiterleben.

Ähnlich wie bei einem spontanen Aufstieg auf den Mount Everest verhalten sich derzeit viele Menschen im Umgang mit dem Coronavirus, wenn sie sagen: «Ich habe ein gutes Immunsystem, ich brauche keine Impfung.» Ob im persönlichen Gespräch, auf Imitaten von BAG-Flyern und Covid-Zertifikaten oder aus dem Mund Prominenter und von Politikern – oft schwingt bei dieser Aussage mit, dass gesunde Ernährung, Bewegung an der frischen Luft oder ausreichend Schlaf eine Art «natürlichen» Schutz böten; dass man dank dem Lebensstil vor einer Infektion und Erkrankung gefeit sei.

Zwar überstehen die meisten Gesunden eine Covid-19-Erkrankung schadlos. Doch die Idee, dass dazu lediglich ein «gutes Immunsystem» nötig sei, ist falsch. Das Immunsystem besteht eigentlich aus zwei Teilen: aus der angeborenen und der erworbenen Immunantwort.

Wie ein Sondereinsatzkommando

Vereinfacht kann man es sich so vorstellen: Die angeborene Immunantwort ist wie eine schnelle Eingreiftruppe. Sie ist zwar sofort zur Stelle, schiesst aber ziemlich wahllos um sich. Die erworbene Immunantwort hingegen ist wie ein Sondereinsatzkommando. Sie braucht etwas länger, um aktiv zu werden, ist dafür aber präzise und kennt den Gegner genau.

Die angeborene Immunantwort ist wichtig für Kinder, weil ihr Immunsystem die meisten Bakterien, Viren und Parasiten noch nicht kennt. Sie sind darauf angewiesen, mit ihrer unspezifischen Eingreiftruppe erstmal auf alles und jeden zu schiessen, und entwickeln dabei häufig Beschwerden. Im Laufe des Lebens, wird unser Immunsystem durch diese wilde Schiesserei immer vertrauter mit dem, was da auf und in uns kreucht und fleucht und baut sich ein sogenanntes Immungedächtnis auf. Dieses Gedächtnis ist die Grundlage der erworbenen Immunantwort.

Doch bei Sars-CoV-2 stehen nun auf einmal auch gesunde Erwachsene vor dem Virus wie ein Kind. Oder, um beim Eingangsbeispiel zu bleiben, wir stehen plötzlich vor dem Mount Everest. Wenn wir uns trotzdem auf die Besteigung einlassen, uns also auf unser «natürliches» Immunsystem verlassen möchten, müssen wir bedenken, dass wir es nicht trainiert, uns also keine erworbene Immunantwort aufgebaut haben. Eine Impfung hingegen wirkt wie ein Training. Zudem vermindert sie das Risiko vor Langzeitfolgen wie Long Covid.

«Jeder Mensch, der bis ins Erwachsenenalter überlebt, hat ein Immunsystem, das ordentlich arbeitet.»

Doch können wir uns nicht schützen oder einer gefährlichen Infektion zumindest die Spitze brechen, indem wir unser Immunsystem stärken, zum Beispiel durch viel Bewegung oder gesundes Essen? Zu wenig Schlaf, chronischer Stress oder Mangelernährung können die natürlichen Abwehrkräfte tatsächlich schwächen. «Das Immunsystem eines gesunden Menschen ist aber bereits stark und funktioniert zu 100 Prozent», sagt Onur Boyman, Direktor der Klinik für Immunologie des Universitätsspitals Zürich.

«Es ist nicht so, dass es bei einigen Menschen nur zu 80 oder 90 Prozent funktioniert. Jeder Mensch, der bis ins Erwachsenenalter überlebt, hat ein Immunsystem, das ordentlich arbeitet», erklärt der Experte. Die einzige Stärkung des Immunsystems, die durch wissenschaftliche Beweise abgestützt ist, stellt eine Impfung dar. Ebenso gilt: Auch wenn man in der Vergangenheit selten krank war, kann man daraus nicht ableiten, dass eine Sars-CoV-2-Infektion glimpflich ausgeht.

«Kinder sind ja dauernd krank», so Boyman, «aber sie haben ein Immunsystem, das sehr gut mit dem Sars-CoV-2 zurechtkommt.»

Folgenschwerer Teufelskreis

Der Idee, dass man mit einem «guten» oder «starken» Immunsystem gegen Sars-CoV-2 in jedem Fall geschützt sei, widersprechen auch Studien, die sich mit der Frage befassen, warum einige Menschen einen besonders schweren Covid-19-Verlauf haben, andere aber nicht. So ist mittlerweile klar, dass kleine genetische, also angeborene Unterschiede zwischen den Menschen dafür verantwortlich sein können.

Ein Beispiel dafür liefert eine Untersuchung aus dem letzten Jahr. Demnach besassen 10 Prozent derjenigen mit schweren Verläufen sogenannte Autoantikörper gegen körpereigene Interferone des Typs 1. Diese Interferone sind Teil der angeborenen Immunantwort und wären eigentlich dazu da, die Vermehrung des Virus zu unterdrücken. Die Autoantikörper unterbinden aber diese Immunantwort. Damit hat Sars-CoV-2 freie Bahn zur Lunge.

Einmal dort angekommen, setzt das Virus einen folgenschwereren Teufelskreis in Gang, der zu Entzündungen verschiedener Organe führen kann und bei dem der Körper viel weniger gegen das Virus als gegen das eigene, überreagierende Immunsystem ankämpft. Hat sich das Virus hier festgesetzt, müssen Ärzte sogar Medikamente geben, die das Immunsystem unterdrücken.

Ob jemand diese Autoantikörper bildet, ist also vorprogrammiert. Es hat nichts damit zu tun, ob man jeden Morgen Birchermüesli zubereitet oder eher der Pizza-und-Bier-Fraktion angehört. Und sei auch unabhängig davon, wie man auf andere Erreger reagiere, erklärt der Immunologe Christian Münz von der Universität Zürich und Mitglied der Covid-19-Science-Task-Force.

Der Fachmann hat unter anderem das Epstein-Barr-Virus erforscht, mit dem über 90 Prozent der Menschen im Laufe ihres Lebens in Kontakt kommen, und das bei einigen das Pfeiffersche Drüsenfieber auslösen kann. «Dieses Defizit beim Interferon-1-Signalweg, das bei Sars-CoV-2 so fatal ist, macht beim Epstein-Barr-Virus überhaupt keine Probleme», sagt Münz. «Die Immunantwort erfolgt also bei jedem Erreger etwas anders.»

Natürliche Infektion ist nicht besser

Manche Menschen verzichten auf eine Impfung auch, weil sie sich lieber einer natürlichen Infektion aussetzen wollen. Dies in der Annahme, dass die «natürliche» Reaktion des Immunsystems «besser» sei. Dazu sagt Immunologe Christian Münz: «Die Immunantwort nach einer Impfung ist jener nach einer Infektion sehr ähnlich, auch wenn sie nach einer Infektion etwas umfassender ist.»

Dass auch «Gesunde», wie manche fordern, innerhalb eines 4G-Zertifikats (geimpft, genesen, getestet, gesund) als geschützt angesehen werden sollten, entbehrt also einer wissenschaftlichen Grundlage. Ein gesunder Lebenswandel, ein starkes Immunsystem allein schützen noch nicht vor Infektion und Erkrankung. Wichtig ist, ob das Immunsystem trainiert ist und dabei hilft nun mal die Impfung.

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